El Doble Piso en San Antonio



7. Der zweite Stock in San Antonio, 05. 05.

(alle Texte in gekürzter Fassung, copyright by Holger Roick)


San Antonio ist, das weiss jedes Kind, eine Metrostation. Wer mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zur grössten Stierkampfarena Lateinamerikas fährt, zur 'La Plaza de los Toros', steigt hier aus. Aber heute denkt daran niemand mehr, wenn er 'San Antonio' hört. Seit September vergangenen Jahres ist dieser Name Synonym für die zur Zeit wahrscheinlich grösste Baustelle des Landes. Hier wurde damit begonnen, was schon in kürzester Zeit der sogenannte 'zweite Stock' der Stadtautobahn sein wird. Ein fragwürdiges Megaprojekt, um der problematischen Verkehrssituation Herr zu werden. Anstatt auszulagern setzt man in Mexico-City weiterhin auf das Hinzufügen.


Das sich voraussichtlich noch über Jahre hinziehende Bauvorhaben ist an dieser Stelle nun fast fertiggestellt und soll in spätestens vier Wochen für den Verkehr geöffnet werden. Der sogenannte Verkehrsverteiler bringt die Autos dann auf teilweise vier Stockwerken in alle Himmelsrichtungen. Es hört sich phantastisch an, und das ist es auch.
Wie das neue Stadtbild ungefähr aussehen wird, kann man in San Antonio jetzt schon gut sehen. Der Mexikaner ist hier ganz in seinem Element, denn er 'liebt' das Material. Was auf dieser Baustelle gerade an Zement verbraucht wird, stellt alles in den Schatten. Ein gigantisches Monster auf tonnenschweren Stelzen verschlägt einem bei seinem Anblick schier den Atem. Niemand, der nicht schwer beeindruckt davor stehen bleibt und wenn möglich kommentiert. So schwindelerregend hoch ist die Konstruktion, das man trotz seiner Schwere gleichzeitig meint, schon der nächste starke Windstoss schmeisse das gesamte Pfeiler-, Bogen- und Brücken-Wirrwarr gleich wieder um.
Neben der grössten Baustelle handelt es sich hier angeblich auch um die schnellste: vergleichbare Projekte, wie beispielsweise eine neue Metrolinie, dauerten bisher immer wesentlich länger. Wie so etwas gemessen wird, ist schwierig zu sagen. Wahrscheinlich rechnet man dabei in der Menge des darin eingegossenen Zementes. Mit acht Monaten Bauzeit liegt man jetzt sogar noch zwei Monate unter dem kalkulierten Zeitlimit. Fünf erste Bauabschnitte werden parallel zueinander durchgeführt, die am Ende mit etwa 30 Meter langen, vorgefertigten Fahrbahnabschnitten nur noch miteinander verbunden werden müssen. Weit über 1000 Arbeiter bewerkstelligen diese, nur etwa 5 km messende Strecke in mühevoller Kleinarbeit und fast überall wird rund um die Uhr gearbeitet.
Wie in einem Ameisenhaufen wimmelt es unter den schon fertiggestellten Brückenteilen, die wenigstens Schatten spenden. Die darüber wie Spinnen in den Gittern der Armierungseisen hängenden Arbeiter schützt nur ihr Helm vor der brennnenden Sonne. Tatsächlich werden hier die strengen Regeln eingehalten, alle Beschäftigten tragen den vorschriftsmässigen Schutzhelm. Dagegen ist es verblüffend, dass niemand den unbehelmten Passanten den Durchgang unter der Mammutkonstruktion verwehrt. Das dies nicht nur auf Nachlässigkeit zurückzuführen ist und es hier einen Zusammenhang gibt, ahne ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Zunächst scheint es mir an manchen Stellen, besonders für die direkten Anwohner, einfach keine andere Moeglichkeit zu geben, zu ihrem Ziel zu gelangen. Aber die Helmregel leuchtet ohne weiteres ein, besonders nach dem Fall eines enormen Balkenstücks direkt vor meine Füsse. Schnell flüchte ich mich wieder unter die einigermassen schutzbietenden, über uns im Himmel hängenden, nun schon fast fertig montierten Fahrbahnteile. Die einzige Gefahr bedeutet hier nur der Funkenflug von den weit über einem ausgeführten Schweissarbeiten. In 20 Metern Hoehe schweben da kleine Plattformen an Seilen herab, auf denen Arbeiter metallene Querstreben unter die zukünftige Fahrbahn montieren.



Der Strassenbau ist, wie immer und überall, eine der härtesten Arbeiten, die man sich denken kann. Neben der gewohnten körperlichen Anstrengung existieren bei diesem Projekt aber ganz spezielle Gefahren, so dass es eine beinahe unglaublich gute Nachricht ist, dass es bisher noch zu keinem tödlichen Unfall kam. Unvorstellbar scheint deshalb ausserdem, dass hier die grosse Mehrzahl der Arbeiter für gerade mal 1000 bis 2000 Pesos in der Woche schuftet.

Vergangene Woche war 'El Dia de la Santa Cruz' (der 'Tag des heiligen Kreuzes', wichtigster Feiertag für alle in der Baubranche Beschäftigten). 1000 Arbeiter feierten diesen Tag wahrscheinlich zum ersten Mal in solch' einem gigantischen Rahmen. Für die meisten war es allerdings sicher auch gleichzeitig eine der langweiligsten Feiern, die sie bisher erlebt hatten. Nur die gerissensten unter ihnen konnten mehr als eine Flasche Bier ergattern. An diesem Tag, an dem das von den Arbeitgebern spendierte Essen +Trinken das A+O der Zeremonie sind, reichte beides hinten und vorne nicht aus. Zwei typische Bands spielten zum Tanz auf, aber Begleitpersonen waren dabei nicht zugelassen. Logisch, dass es keinen Tanz gab.jjjjjjjjjjj. Das Essen kam letzendlich mit einiger Verspätung und sichtlich verärgert warteten viele Arbeiter nur ab, bis der Wagen endlich vorfuhr, der den Wochenlohn ausbezahlte, bevor sie die Veranstaltung enttäuscht verliessen. Andere beschwerten sich und verlangten gleich eine Lohnerhöhung, wohlwissend, dass diese ausgeschlossen war. Schliesslich hatten alle hier für mehrere Monate einen sicheren Job, der sogar beträchtlich über dem gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohn bezahlt wurde. So war dieses Anliegen nicht mehr als eine notwendige Pflichtübung, die sie scherzend und von lautem Gelächter begleitet, ausführten. Ein Spass, den man sich an seinem Ehrentag erlauben konnte, der aber dementsprechend auch von keiner Seite ernstgenommen wurde. Die Angelegenheit wurde dann von einem überaus optimistischen Pfarrer während des abschliessenden Gottesdienstes noch passend abgerundet. Er rief die Arbeiter dazu auf, alle Kritiker gegen das Bauvorhaben einfach zu überhören, "denn wenn jemand etwas gutes tut sind sowieso immer alle unzufrieden damit?" Auf seine Frage, wie denn jemand genannt wird, der seiner Frau beim Tragen der Einkaufstüten hilft, antwortete ihm das Publikum wie im Chor, johlend: "Ein Pantoffelheld?"
Die etwas aus der Bahn geratene Welt war damit wieder zurecht gerückt und am Montag würden alle auf's Neue und zu den gleichen schweren Bedingungen die Arbeit antreten. Ausser jenen vielleicht, die anschliessend noch irgendwo eine lebhaftere Santa-Cruz-Party aufgestöbert hatten und den San Lunes ('heiliger Montag') zur Erholung brauchen würden.



Wie ist es möglich, fragt man sich, dass beim Wachsen eines dermassen gewaltigen Bauwerks nur sowenig Krach entsteht? Die Bauherren begründen es mit der hochmodernen Struktur und Technik, die man hier benutzt. Mir scheint das Verwenden vorgefertigter Teile ausschlaggebender dafür zu sein. Wie dem auch sei, ein Grund für die allseits ausbleibenden Proteste kann es nicht wirklich sein.
Ich habe unerträgliche Lebensumstände erwartet, allenthalben empörte Anwohner. Grosse Schilder an den Hauswänden, auf denen man sich über die Beeinträchtigungen beschwert, über das ausbleibende Geschäft, weil durch die Baustelle nun keine Zufahrtsmöglichkeiten mehr bestehen. Oder Klagen über eine zu geringe oder gar keine Abfindungssumme. Massenhafte Verkaufsangebote für Wohnungen. All' das sucht man hier aber vergeblich. Anstatt dessen finde ich nur eine kleine Tafel der Nachbarschaftsorganisation, die den undiskriminierten Bau von Mehrfamilienhaeusern in der Zone anprangert. Ein einziges Verkaufs- bzw. Mietangebot hängt im Fenster einer Wohnung im vierten Stock. Gerade dort aber sollten die Fenster voll mit derartigen Schildern hängen, denn von hier aus wird man in Zukunft den besten Blick auf die untere der beiden luftigen Fahrbahnen haben. Das bedeutet, dass dort bald schon die Autos in wenigen Metern Entfernung am Wohnzimmer vorbeirauschen werden. Schluss mit ungestörtem Fernsehen. Auch im Schlafzimmer wird dann nicht mehr mit viel Ruhe zu rechnen sein, ganz abgesehen von den für einen erholsamen Schlaf nicht gerade wünschenswerten Lichtverhältnissen. Da haben es die Leute im letzten, dem fünften Stock, vielleicht etwas besser. Niemand wird ihnen von der neuen Strasse aus in die Wohnung schauen können. Sie haben hier die exakte Höhe für eine direkte Sicht auf die enormen grauen Betonwannen, von den Anwohnern Wale genannt, auf denen sich der obere Verkehr abspielt. Clevere Autofahrer werden dann Sonntags in den vorgesehenen Parkbuchten, die sogar mit Grünanlagen versehen werden sollen, anhalten, um von dort aus die freie Aussicht in die Stierkampfarena zu geniessen?



Zu Beginn der Konstruktion gab es natürlich noch einige Bürgerbeschwerden. Aber das eigentliche Ringen um das Projekt wurde schon davor in monatelangen Streit in den Medien abgehandelt. Das war mehr oder weniger nur eine Farce. Jeder, der zwischen den Zeilen lesen konnte, wusste längst, dass der Bau durchgesetzt werden würde. Und so hatten sich wohl auch schon die meisten Bürger vor Baubeginn mit ihrem Schicksal abgefunden. Mit Grundsteinlegung war dann auch nahezu jeder Protest verstummt. Heute versucht man eher, dem neu enstehenden Monster seine guten Seiten abzugewinnen. Tatsächlich kommt niemand drum herum, bei seinem Anblick Bauklötze zu staunen.
Die Gewohnheit hat inzwischen über das Unbehagen, mehr war es wahrscheinlich niemals, gesiegt. Immer noch hat man etwas Angst beim Verlassen des Hauses, man trägt ja keinen Bauhelm. So ist der vorsichtige Blick in die Höhe inzwischen selbstverständlich, bevor man auf die Strasse tritt. Die Restaurants haben Schilder an den Türen angebracht, auf denen steht 'OFFEN', bitte Hintereingang benutzen?. Darüber hinaus nimmt alles seinen gewohnten Lauf. Wirklich stark und für immer betroffen sind tatsächlich 'nur' die direkt an dem neuen Strassenkomplex gelegenen Bewohner. Gerade mal einen Block entfernt kann man von dem natürlich doch entstehenden Baulärm schon nichts mehr hören. In der wunderschönen Kolonie 'San Pedro de los Pinos', mit seinen bunten, fast ausschliesslich kleinen und verspielten Einfamilienhäusern und einem verblüffend gesunden Baumbestand, hat sich hier optisch rein gar nichts verändert. Vielleicht gab es ja auch deshalb keine grössere Solidarität mit ihren Nachbarn, für die sich nur einen Block weiter jetzt das ganze Leben verändert hat. Die Solidarität ist hier derart: "Heute hat's dich erwischt, wahrscheinlich bin ich schon morgen dran?"


Lebensumstände, die sich permanent verändern, ist man reichlich gewohnt. Der Sieg der Gewohnheit umfasst aber wesentlich mehr, als nur eine veränderte Dynamik. Hier zeigt es sich mal wieder in aller Deutlichkeit, dass sich im Land permanent zwei Leben parallel zueinander abspielen, die gegensätzlicher nicht sein könnten. Zwischen ihnen besteht nicht die geringste Chance auf eine Annäherung. Es ist dies das Leben der Regierenden und das der Regierten. Da ein Regierter kaum annimmt, das von den Regierenden etwas dem Allgemeinwohl Dienliches zu erwarten ist, aber auch ohne irgendeine Kraftanstrengung, dieses anscheinend unausweichliche Schicksal abzuwenden, passt er sich lieber immer wieder den neuen Spielregeln an. Die Erfahrung hat ihn gelehrt, dass jeder Versuch, an diesen Verhältnissen etwas zu ändern, vergeudete Energie bedeuten würde, die er besser zu nutzen weiss. Deshalb geht das Leben hier jetzt weiter, als wenn nichts geschehen wäre. Und es gibt ja auch immer wieder eine gute Seite zu betrachten, so etwa die, dass das neue Bauwerk nun Schatten für die Restaurants und Läden am Strassenrand spendet!
Jetzt verstehe ich auch, warum Passanten auf der Baustelle ungehindert zwischen den Arbeitern herumlaufen können: sie sitzen alle im selben Boot!
Die Regierten sitzen aus, was von den Regierenden eingefädelt wurde. Das sind die Regeln des alten und wohlbekannten Spiels. Das Leben der einen Gruppe berührt dabei in keinem Punkt das der anderen. So schert sich auch niemand wirklich um die Meinung des anderen. Jeder lebt seine Vorstellung vom Leben unbeeinträchtigt aus, d.h. die existierende Beeinträchtigung berührt einen nicht wesentlich. Im Kräftevergleich ist man sich ebenbürtig. Nur werden die Kräfte üblicherweise nicht gemessen. Dieses oberste Regel ist Grundvoraussetzung für das Überleben beider Gruppen.

In grosser Höhe füllen schlechtbezahlte Bauarbeiter gerade eine monumentale Betonschalung mit Styropor aus. Tausende kleine Flocken schweben auf uns Passanten in einem nahegelegenen Park herunter. Wie bei einem leichten Schneefall wird plötzlich alles weiss um uns herum und stimmt mich jetzt, nach Balken- und Funkenflug, versöhnlicher. Nur ein von niemandem gewünschter aber von allen befürchteter 'Autoflug' könnte den heutigen Kritikern Recht geben, aber dann wäre es mal wieder zu spät für ein Umdenken.


Die Anpassungsfähigkeit ist die eigentliche Stärke der Regierten und macht sie für gewöhnliche Regierungen 'de facto' unregierbar.