'La' Guerrero


2. 'Die' Guerrero, 01. 04.

(alle Texte in gekürzter Fassung, copyright by Holger Roick)



Die ´Colonia Guerrero´ gilt, neben wenigen anderen, als eine der gefährlichsten Gegenden der Stadt Mexico City. Gefährlich bedeutet soviel dass, wer hier ´nicht hingehört´, d.h. hier weder wohnt noch Freunde hat, ziemlich sicher mit Problemen rechnen kann.
Dies ist zumindest der Ruf, der ihr unfehlbar vorauseilt und ihrem Namen ´Guerrero´ damit alle Ehre macht. Ob der Stadtteil nun nach dem südlichen Bundesstaat benannt wurde oder nach seiner wörtlichen Bedeutung ´Krieger´, ist eigentlich nicht wichtig. Wer den Staat kennt weiss, dass er Synonym für Aufstand und Gewalt, also für permanente, kriegsähnliche Auseinandersetzungen ist. Ein ´Krieger´-Volk also, welches mit dieser Art so gar nicht in das Klischee des gleichgültigen Mexikaners passen will.

Auf jeden Fall ist klar: dem Wahrheitsgehalt dieser zweifelhaften Berühmtheit auf den Grund zu gehen, würde ich mir bei Nacht wohl kaum allein zutrauen. Auch nicht, obwohl die 'Colonia', wie andere Kolonien im übrigen auch, von allen liebevoll mit dem weiblichem Artikel „La“ Guerrero! benannt wird.
Nach einer etwas traumatischen Erfahrung in einem restlos überfüllten Metrowaggon, der mich an eine in Panik geratene und sich gegenseitig erdrückende Menschenhorde in Fussballstadien erinnerte, war ich jetzt allerdings froh, dort endlich wieder unter freiem Himmel zu sein.

Die ´Guerrero´ grenzt unmittelbar ans historische Stadtzentrum. Nur einen Steinwurf entfernt von den Prachtbauten wie etwa Correo Mayor, der Hauptpost oder dem marmornen Theater Bellas Artes befindet man sich schon mitten darin. Mittendrin ist nicht ganz richtig ausgedrückt, denn sie ist sehr gross und zeigt auf weiter Fläche ganz unterschiedliche Gesichter.
Zwei grosse Hauptverkehrsadern, Eje Central und Tacuba, rahmen sie im Osten und im Süden ein, der langgezogene Bahnhofskomplex der Hauptstadt und die gigantische Wohnanlage von Nonoálco Tlatelolco beschreiben ihre westliche, bzw. ihre nördliche Begrenzungslinie. Kommt man aus westlicher oder südlicher Richtung, was für einen Fremden die Regel ist, meint man in eine Sperrzone einzudringen. Die grossen Avenuen haben einen Effekt, ähnlich dem einer Mauer, hinter der eine andersartige Welt beginnt.
Hatte man gegenüber gerade noch den Palast der Schönen Künste bewundert oder war im erholsamen Alameda-Park unter grossen Eschen flaniert, ist es hier mit einem Schlag vorbei mit jeglicher Grandezza.
Mehr schlecht als recht halten sich die einfachen, zumeist zweistöckigen Gemäuer aus den Zeiten spanischer Herrschaft gerade noch aufrecht. Der Putz von diesen ehemals bunt gestrichenen Häusern bricht in grossen Platten vom dicken Mauerwerk. Die Dicke ist unschwer an den Stellen zu erkennen, wo die Steine ganz fehlen. Durch so ein Loch sieht man, dass die Innenräume im unteren Bereich oft nur noch als Lagerraum benutzt werden, während die obere Etage meist noch bewohnt ist. Fehlende Türen und Fenster sind durch davorgenagelte Balken oder Bretter gesichert.



Zwei Strassen weiter sieht es schon wieder ganz anders aus. Rund um den berühmten Tanzsaal Salón México, eine ausgediente Fabrik aus rotem Backstein, finden sich noch andere grosse und hohe Gebäude, die wahrscheinlich auch einmal als Fabriken gedient haben. Heute sind sie zu sogenannten ´vecindades’, Mehrfamilienkomplexe umfunktioniert.
Nach ein paar Schritten wandelt sich das Bild erneut: hier sind die zweigeschossigen Kolonialbauten alle recht gut erhalten, die Strassen sind dicht mit Bäumen bestanden und es herrscht reges Leben. Kleine Geschäfte und Restaurants, Garküchen, Obsthandlungen und verschiedene Werkstätten machen einen einladenden Eindruck.


Alles, was ich bisher gesehen habe, so unterschiedlich es gewesen sein mag, provoziert diverse Emotionen, nur eine nicht: sich fürchten zu müssen. Alles erinnert mich sehr stark an meinen ersten Aufenthalt in Mexiko-Stadt, vor beinahe zwanzig Jahren. Da schlenderte ich genauso ziellos und neugierig auf alles durch eben solche Strassen und Gassen. Eine Gegend, in der ich ohne zu zögern das erstbeste Hotel nahm und in der ich dann tagelang herumstrich, ohne bislang etwas vom historischen Zentrum gesehen zu haben. Selten zuvor hatte ich mich so wohl gefühlt wie in jenen Tagen. Ich wusste zwar, wie nahe ich dem eigentlichen Zentrum war, all’ den Sehenswürdigkeiten, die man gesehen haben ´musste´. Aber nichts zog mich vorläufig dorthin und ich verschob es jeden Tag auf’s Neue, das leichte Gefühl, etwas Einzigartiges zu erleben, weiter auskostend.

Plötzlich um zwanzig Jahre erleichtert, laufe ich beschwingt und aufgeregt weiter.


Zufällig komme ich durch die Calle Magnolia, wo einmal Freunde von mir wohnten. ´La Casa de los tres Patios´, das Haus der drei Innenhöfe, ist wegen seiner im Staate Michoacan beheimateten Bauweise stadtbekannt, die hier ansonsten nur selten zu finden ist. Aber auch wegen seiner prächtigen, bougambiliabewachsenen Innenhöfe. Ein Dokumentarfilm darüber half mit und selbstverständlich auch deren schillernde Bewohnerschaft: immer wieder wechselnde Künstler, die dort ihre Wohnung zum Atelier und ihr Atelier zur Wohnung machen.
Gerne würde ich kurz hineinschauen, um zu fotografieren. Das könnte zeigen, was für Perlen oft hinter schäbigsten Hofeinfahrten versteckt liegen. Aber ich kenne inzwischen niemanden mehr, den ich durch die Ritzen des verwitterten Holztores hindurch herbeirufen könnte, Klingeln gibt es hier nicht. Als ich wohl schon etwas zu lange an dem Eingang herumgeschnüffelt habe, wird ein Kerl auf der gegenüberliegenden Strassenseite auf mich aufmerksam und fragt, ob ich denn da rein möchte. Er nennt mir einen Namen, nach dem ich rufen soll und die Sache klappt. Ich murmele etwas von den Freunden, die hier einmal gewohnt haben und dann schliesst mir Margarito, so heisst der neue Mieter, das dreifach gesicherte Tor auf. Im ersten Hof arbeitet gerade eine Bildhauerin an einer Stahlskulptur. Im zweiten Hof hat Margarito nun seine Werkstatt, wo das Atelier meiner Freunde war. Im dritten sehe ich einen Maler. Und überall: wuchernde Pflanzenpracht und faule Katzen. Ich mache einige Fotos und verabschiede mich nach kurzem Gespräch wieder von Margarito. Es waren Neugierde und Nostalgie, die mich angelockt hatten, jetzt zieht es mich aber schon wieder auf die Strasse zurück. Ich mache noch ein abschliessendes Foto von aussen und dort steht der Kerl von vorher noch immer. Ich bedanke mich bei ihm für seinen guten Tipp. Nicht der Rede wert, meint er, aber meine kleine Kamera interessiert ihn. Solche Gegenstände erregen immer allzu grosse Aufmerksamkeit. Inzwischen bewege ich mich so sorglos, dass ich daran gar nicht mehr gedacht habe. Ich zeige ihm die neueste Errungenschaft del hombre blanco, verblüffende, winzigste Digitaltechnik, geb’ sie ihm in die Hand, lasse sie ihn ausprobieren. Unsere unbedeutsamen Spielzeuge, immer viel zu teuer erkaufter Fortschritt, denke ich. Eine feine Sache, stimmen wir überein. Er gibt mir die Kamera zurück und ich verabschiede mich.


Zwei Blocks weiter komme ich zur Metrostation Guerrero an der Calle Mosqueta. Ich bin jetzt ‚mittendrin’. Und hier verändert sich das Bild schliesslich ein weiteres Mal.
Das ist es wohl, wovor immer alle warnen: auf U-Bahnschächten, auf den breiten Trottoirs und in Pfützen liegende Penner. Ebenso auf dem Vorhof der Kirche, die gerade renoviert wird, im Bauschutt oder vor der Arena Coliseo, die jetzt noch geschlossen ist und wo am Abend starke Männer Lucha Libre vorführen. Nicht in versteckten Ecken also, sondern an den öffentlichen Plätzen. Man weiss es nicht, man kann es nur ahnen, wer von diesen Menschen heute abend vielleicht nicht mehr aufstehen wird. Niemand beachtet sie, es sind zu viele! Ihr Weg endet in der Gemeinschaftsgrube der Gerichtsmedizin.
Über einen dieser Männer oder Frauen, es ist schwer zu sagen, denn unter den Decken schauen immer nur die Füsse heraus, stolpere ich beinahe, direkt in die Arme eines höchstens zwölfjährigen. Der scheint hier im Schlafanzug umher zu wandeln, grinst mich mit verdrehten Augen an und torkelt weiter. In einer Hand hält er einen schweren, doppelklingigen Maurerhammer.
Gruppen scherzender, ziemlich heruntergekommener Jugendlicher überholen mich oder kommen mir entgegen. Das ist schlimmer und ich weiss nicht, ob ich ihnen besser ausweichen oder meinen Weg einfach direkt auf sie zu fortsetzen soll? Als sie ganz nah sind, kann ich trotzdem nicht verstehen, was sie belustigt reden, spüre aber, dass es um mich geht. In den Parks sitzen viele dieser jungen Männer alleine auf den Bänken, die Arbeitslosigkeit!
Plötzlich rempelt mich ein in Lumpen gehüllter Junge an, hat er Polio oder warum ist er so verkrampft? Er lacht mich an und schwallt mir etwas Unverständliches ins Gesicht. Ich will ihm schon etwas Geld zustecken, aber da ist er schon weiter. Es gibt hier keine Bettler.

Zwischen der breiten Strasse und dem Trottoir gibt es oftmals einen niedrig umzäunten, baumbestandenen Grünstreifen. Hierdrin häufen sich zwar Müllberge, die aber von den städtischen Reinigungskolonnen täglich neu ausgefegt werden. So kann man nicht sagen, dass der Anblick dessen, was notgedrungen zurückbleibt oder sich schon wieder neu angesammelt hat, besonders abstossend wäre.
In den Nebenstrassen wird ganz deutlich, wie die meisten Menschen hier leben. Es ist jetzt schon weit über Mittag und immer mehr Hofeinfahrten stehen nun offen. Die Höfe sind in der Regel lange Schläuche, die von links und rechts stehenden, mehrstöckigen Gebäuden gebildet werden. Zugang zu den Wohnungen bekommt man über eine Gemeinschaftstreppe, zumeist eine erst nachträglich eingebaute Metallkonstruktion, die sich in den oberen Etagen auf die zwei gegenüberliegenden Seiten verzweigt. Man wohnt zwar eng aufeinander, fühlt sich aber durch den Innenhof sicherlich nur wenig beengt.

Ein zur Strasse gelegenes Fenster im Erdgeschoss ist in ein gemaltes Wandbild integriert. Das fordert die lokalen Politiker auf, ihre Versprechungen auf preiswerten und würdevollen Wohnraum einzuhalten. Das Nachbarhaus mit einem Tor, auf das gross ein Metallschild geschweisst ist: ‚S B’, ist die Wohnung von SuperBarrio, dessen Gesicht niemand kennt, weil er es hinter der Maske eines ‚Luchadors’ versteckt hält, einer dieser Ringkämpfer, die das Volk so sehr liebt. SuperBarrio (Barrio = Stadtviertel) ist Führer einer einflussreichen Bürgerinitiative, die auf alle denkbaren Ungerechtigkeiten der Lokalpolitik sofort und wirkungsvoll reagiert, durch seine Taten inzwischen zu einem Held im Volk geworden, welches sich mit der Figur des Ringkämpfers sehr gut identifizieren kann. Ein glaubhafter, moderner Guerrero!


An der Calle Tacuba angekommen, bei der reichverzierten, eindrucksvollen Parroquia San Fernando auf dem gleichnamigen Platz, ‚spuckt’ mich die Guerrero schliesslich wieder aus. Auf ihrem weitläufigen Friedhof mit seinen prächtigen Mausoleen wohlhabender Familien des 19. Jahrhunderts wird es kaum einen Platz für die aktuellen Bewohner des Stadtviertels geben. Aber für die Zukunft ist zu hoffen, dass in der Guerrero etwas weniger Menschen anonym beigesetzt werden müssen. Die Chancen darauf haben sich durch eine langsam wirksam werdende Eigeninitiative glücklicherweise inzwischen stark verringert.