Iztapalapa


4. Iztapalapa, 15. 04.

(alle Texte in gekürzter Fassung, copyright by Holger Roick)

Zwei Dinge sind es, für die Iztapalapa berühmt ist. Die in jeder Hinsicht extrem chaotischen Lebensumstände in dieser mit über zwei Millionen Menschen meistbevölkerten Gemeinde der Hauptstadt, sowie die dort seit 160 Jahren stattfindenen Festspiele in der Osterwoche, an denen von über 4000 Akteuren die Viacrusis von Jesus nachgespielt wird. Noch eine dritte Sache ist in Iztapalapa herausragend, ‚el Faro’, der Leuchtturm, von dessen Existenz allerdings schon weitaus weniger Personen wissen und von dem später die Rede sein wird.

Die in zwei Tagen beginnenden Festspiele sind der Grund, warum ich mich heute ausgerechnet hierher begebe.

Seit Iztapalapa zu Beginn des 19. Jahrhunderts von der Cholera heimgesucht wurde und die Bevölkerung erfolgreich ihren Heiligen ´Seńor de la Cuevita´ anrief, sie von dem massenhaften Sterben zu befreien, wird ihm zu Dank und Ehren hier alljährlich diese spektakuläre Aufführung dargeboten. Am Karfreitag erreicht sie auf dem Sternberg (´Cerro de la Estrella´) mit der Kreuzigung Jesu ihren Höhepunkt. Dort kann man dann den Ausdruck von Schmerz und Traurigkeit in den Gesichtern der Schauspieler und gleichermassen bei gut 100 000 Zuschauern ablesen.
Am Karsamstag finden die Feierlichkeiten ihren Ausklang mit der Judasverbrennung. Riesige Pappmachéfiguren des Verräters werden unter grossem Gejohle den Flammen übergeben. Damit sollen in erster Linie die sieben Todsünden gebannt werden. Aber der Papierjudas steht gleichzeitig auch für die eigenen Sünden des vergangenen Jahres, die mit diesem Akt gesühnt werden sollen. Ein Brauch der, wie Hersteller aufgrund der rückläufigen Verkaufszahlen feststellen, vielleicht bald nur noch auf den grossen öffentlichen Veranstaltungen zu sehen sein wird, auf ein folkloristisches Detail reduziert.

Der Glaube an die Wirksamkeit derartiger Zeremonien lässt natürlich in demselben Grad nach, wie die allgemeine Bedeutung der Kirche, besonders für die junge Generation. Das ist in Mexiko aber weiterhin nicht viel und deshalb verwundert es nicht, dass diese streng religiöse Tradition ausgerechnet dort so grosse und nicht nachlassende Popularität hat, wo die Lebensbedingungen nach wie vor zu den schwierigsten gehören.
Im Osten der Hauptstadt gelegen gehört Iztapalapa zu dem Teil des ausgetrockneten Texcoco-Sees, der einen dreifach höheren Salzgehalt als das Meer hatte. Das trägt besonders zu dem heute beinahe wüstenhaften Charakter des Stadtgebiets bei, da hier aufgrund des salzigen Bodens nur bestimmte Pflanzen wachsen können. Das ökologische Desaster, unter dem der Moloch Mexico-City ohnedies leidet, spitzt sich dadurch noch weiter zu.
Ein seit vielen Jahrzehnten andauernder und weitgehend unkontrollierter, durch Landflucht ausgelöster Bevölkerungszustrom, bringt aber die grössten Schwierigkeiten mit sich. Immer knapper werdender Wohnraum hat hier zu 150 auf engstem Raum angesiedelten ´Unidades Habitacionales’ geführt, riesige Wohnkomplexe mit vielen tausenden Bewohnern, die hier ganz besonders das Bild des Stadtteils prägen.
1950 drehte Luis Buńuel ‚Los Olvidados’ (‚Die Vergessenen’) vor dem Hintergrund solcher damals hier aus dem Boden schiessenden Wohnsilos. Denn damals wie heute ist das Wohnproblem mit den Massensiedlungen nicht etwa gelöst und wild wuchernde Eigenbausiedlungen aus Wellblechhütten vervollständigen das Bild. Um den Film drehen zu können, schaute Buńuel sich sechs Monate in solchen Gegenden um. In Nonoalco beispielsweise und möglicherweise sogar eben hier, wo ich gerade stehe, denn schon damals galt Iztapalapa als das erste und grösste Auffangbecken für Neuankömmlinge.
Er wusste wohl, dass er mit dem Film auf einigen Widerstand stossen würde, da es vielen Mexikanern nicht recht sein konnte, dass solch’ ein Bild ihres Landes in der Welt gezeigt werden würde. Er setzte ihm deshalb einen erklärenden Text voran: „Die grossen modernen Städte, New York, Paris, London, verstecken hinter ihren prächtigen Bauten all’ die miserablen Unterkünfte, in denen unter übelsten hygienischen Umständen Kinder ohne Schulbildung leben, Brutstätten zukünftiger Krimineller. Die Gesellschaft versucht diesem Missstand abzuhelfen, aber der Erfolg ihrer Anstrengungen ist bescheiden. Erst in einer nahen Zukunft können die Rechte von Kindern und Jugendlichen einforderbar werden, welche sie zu nützlichen Elementen für die Gesellschaft machen. Mexico, die grosse moderne Stadt, ist sogesehen keine Ausnahme von dieser allgemeingültigen Regel und deshalb ist dieser Film, der auf Tatsachen des realen Lebens beruht, nicht optimistisch und überlässt die Lösung des Problems den fortschrittlichen Kräften der Gesellschaft.“



In den folgenden Jahren sollte sich daran nicht sehr viel ändern; im Gegenteil hat sich die Problematik in Iztapalapa durch die hohe Bevölkerungsdichte immer noch weiter verschärft. Die Probleme sind klar und immer die gleichen: Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Alkoholismus, Drogenabhängigkeit, Prostitution, Kindesmisshandlung etc.
Die grosse Mehrheit der Bevölkerung sind Kinder und Jugendliche!
Man kann also polemisch sein und sagen, dass in Iztapalapa die ´Viacrusis´ nicht nur einmal im Jahr sondern täglich stattfindet und dies nicht nur für einen dazu ´Auserwählten´, sondern für jeden einzelnen seiner Bewohner.
Die schlimmen Zustände in Iztapalapa erreichten im Jahr 1997 ihren Höhepunkt, als darüber nachgedacht wurde, ob die Gewalt und Kriminalität dort mit der berüchtigten Staatspolizei, den Judiciales, oder mit dem Militär bekämpft werden sollte. Letzendlich war das eine Diskussion darüber, mit welchen Mitteln eine Invasion im eigenen Land zu bewerkstelligen sei!
1997 war aber gleichzeitig auch das erste Jahr, in dem in Mexico-City der Bürgermeister und seine neue Administration nicht autokratisch ernannt, sondern demokratisch vom Volk gewählt wurde. Hatte sich nach beinahe 50 Jahren vielleicht doch etwas von Buńuels Hoffnung auf die fortschrittlichen Kräfte der Gesellschaft erfüllt?



Ich laufe, von der Metrostation Acatitla kommend, durch die Wohnanlage ´El Salado´ und noch darüber nachsinnend stehe ich urplötzlich, bei Block A1-A3, schon direkt vor meinem Ziel, EL FARO. Das ist die Abkürzung für ‚Fabrik des Ostens für Kunst und Handwerk’, heisst aber gleichzeitig übersetzt auch ‚Der Leuchtturm’ und ist damit Symbol für das orientierende Licht, das im Osten (der Stadt) mit seiner Errichtung wegweisend sein soll. Seit drei Jahren, und damit exakt 50 Jahre nach Buńuel’s Film, leuchtet dieses Licht nun. Allerdings stand es zu Beginn diesen Jahres auf Messer’s Schneide, ob es weiter brennen oder bald erlöschen würde. Es gab angeblich mal wieder zu wenig Geld im Haushaltstopf und wie immer in solchen Fällen treffen Sparmassnahmen zuerst die Kultur.
Auf die Osterzeremonie in Iztapalapa näher einzugehen, ist in jedem Jahr möglich, ein Ende davon kaum abzusehen. Aber im kommenden Jahr noch über den Faro berichten zu können, ist also keineswegs so gewiss.

Das Gebäude des heute wohlangesehenen und von den Bewohnern Iztapalapas vollkommen akzeptierten Kulturzentrums erinnert zuerst an ein grosses Schiff, das hier vor Anker liegt. ‚El Faro’, der stilisierte Leuchtturm, ist das Symbol der Fabrik. Er überragt alles und erinnert ebenso an den Hafen wie das davorliegende Tribünenrund mit Blick auf die ´Kommandobrücke´dieses Schiffes. Das ganze ist umgeben von einem künstlich angelegten Damm, der mit den hier überlebensfähigen heimischen Pflanzen befestigt ist und das Ufer des ehemaligen Texcoco-Sees darstellen soll.
Von diesem Hafen läuft man auf grosse Reisen aus. Die Abenteuer, die dort zu bestehen sind, heissen: Bibliothek, Fotografie, Theater und Tanz, schreinern, schweissen, drucken, malen und bildhauern, gärtnern und ökologische Workshops, Papierherstellung.

Was hier besonders für Kinder und Jugendliche geleistet wird, kann gar nicht überbewertet werden. Leider sind Projekte wie ´El Faro´ immer wieder den politischen Kursschwankungen ausgesetzt. Dadurch ist ihre Existenz permanent bedroht. Im Moment kann man sich aber in Iztapalapa glücklicherweise ziemlich auf die ´fortschrittlichen Kräfte´, wie sie Buńuel angedeutet hat, verlassen. Mit ihrem Verschwinden wäre inzwischen dank der hervorragenden Akzeptanz und erstaunlicher Aktivitäten ein hoher politischer Preis zu bezahlen. Heute traut sich in Mexico kaum jemand, Massenkonzerte für Punks, Hip-Hopper, Raver etc. zu organisieren. Im Faro bedeutet dies -unter Ausschluss der Polizei (die muss draussen warten!)- für events mit 15 000 Jugendlichen seit drei Jahren kein Problem. Hausfrauen der Zone werden dafür eingesetzt, von denen die Jungen sich gerne nach unerlaubten Gegenständen abtasten lassen. Jeder scheint zu wissen, dass ein gewalttätiger Vorfall nicht nur das Ende der Konzerte, sondern die Schliessung des Faros heissen kann. So wundert man sich auch nicht lange über die Ordnung und Sauberkeit der gesamten Anlage und ihrer Installationen. Wo beispielsweise jeder zweite Besucher ein potentieller Graffiti-Künstler ist, sucht man hier vergeblich nach den achtlos wegschmissenen, leeren Dosen. Allerdings bleiben ihre Talente nicht ungenutzt. So ist das gesamte Gebäude gleich zur Eröffnung rundum von unzähligen Sprayern in einer ersten Aktion mit einem endlosen Wandbild versehen worden. Einzigste thematische Vorgabe: der ´Ajolote´! ´Axolot´ in Nahua, der Sprache der Azteken, so erklärt mir der Direktor Benjamin Gonzalez, ist eine bestimmte Salamanderart, die im Texcoco-See lebt und nur in Mexico niemals zur ausgewachsenen Form heranreift. Hier, und nur hier, bleibt diese Art zeitlebens Adoleszent. Noch ein weiteres Zeichen, das hier gesetzt wird, diesmal entlang der Mauern und bezeichnend für eine ewige Jugend, um die sich hier alles dreht. Ein Schriftsteller hat dazu einmal gesagt, dass Axolot ein Symbol für alle Mexikaner sei, die auf ihre besondere Art auch ewig Kinder bleiben.




Man möchte dies ausschliesslich im positiven Sinne verstehen. Es fällt dann schwer, wenn man wie ich auf der Rückfahrt in der Metro einen Jungen sieht, der auf allen Vieren durch den Waggon krabbelt, jaulend wie ein Hund, und mit Spucke und Lappen die blitzenden Schuhe der Büroleute putzt. Und dann, wenn er Pech hat, ebenso wie ein Strassenköter einen kurzen aber gezielten Tritt einstecken muss.




Während der Tage im Jahr, an denen Jesus’ Leidensweg in Iztapalapa aufgeführt wird, gilt für alle verbindlich: nicht töten, nicht stehlen, nicht vergewaltigen…..
Aber eine paktierte Woche reicht nicht aus, die vom christlichen Glauben verfochtenen Werte mit Leben zu füllen.
Die Erfahrung des Faro zeigt in jeder Hinsicht, wie es trotzdem funktionieren kann.