Panteón San Isidrio




5. Der Friedhof von San Isidrio, 23. 04.
(alle Texte in gekürzter Fassung, copyright by Holger Roick)

Die Regenzeit hat jetzt begonnen. Es hat zumindest den Anschein. Einige Wochen verfrüht zwar, aber andererseits gerade zum richtigen Zeitpunkt. Nach einem endlosen Dauerbeschuss mit Nachrichten von Tod und Sterben in der Wüste und den Städten Irak’s tut es zumindest dem Auge und damit der Seele gut, das wiedererwachende Leben zu registrieren. Nach monatelanger Trockenheit dauert es nur wenige Tage, bis alles wieder in vollem Saft steht. Sofort spriesst es überall in überschiessender Kraft und in Farben, an die man sich schon fast nicht mehr erinnerte. Das in dieser Höhe ganz ungewohnte, plötzlich einsetztende feucht-warme Klima gibt einem zumindest während der ersten Tage der Regenperiode das Gefühl, selbst Teil eines ‚sinnstiftenden’ Naturzyklus zu sein. Ein Mensch, der sich so wie ich jetzt mit einer Pflanze vergleicht, in die mit den ersten Regentropfen neues Leben fliesst, (bei mir passiert dies durch die dampfschwangere Luft, deren Geruch mich an das Tropische erinnert und mich ganz in ihren Besitz nimmt) wird in so einem Fall kaum von sinnvoll, sondern immer von sinnstiftend reden. Das unterscheidet ihn letztendlich von einer Pflanze und macht ihn zum Menschen.

Schon früh treffe ich mich mit Pepe, denn wir haben einen langen Rundgang vor uns und in wenigen Stunden wird es so heiss sein, dass an ein Weiterlaufen nicht mehr zu denken ist. Pepe ist ein guter Freund und Maler. Als wir uns vor nicht langer Zeit über Parres 52 unterhielten, machte er mir den Vorschlag, mich zu so einem ´Nicht-Ort´ zu führen, wie ich ihn brauche.
In seinen schlechtesten Zeiten war er Leichenwäscher bei der SEMEFO (Servicio Médico Forense = Gerichtsmedizinisches Institut) und die Arbeit dort hatte verständlicherweise einen tiefen Eindruck bei ihm hinterlassen. Doch war es weniger die Arbeit als die Schicksale, mit denen er dort täglich konfrontiert wurde. Besonders die grosse Zahl der Menschen, die irgendwo auf der Strasse anonym gestorben waren, erschütterte ihn. Das hatte seine Position geprägt, von der er mir aber erst auf dem Panteón San Isidro, dem Hauptfriedhof seiner Gemeinde Azcapotzalco, erzählen wollte. Für ihn war dieser Friedhof ein verabscheuenswerter Platz, eben weil er voll von jenen einsamen Toten aus der SEMEFO war und obwohl er selbst Verwandte dort liegen hatte. Ich war nun ebenso gespannt auf den Ort wie auf seine Erklärung dazu.

Der seit 1958 bestehende, mit über 30 Hektar inzwischen grösste Friedhof der Stadt, hebt sich durch eine verblüffende Besonderheit von anderen ab. Auf sich gegenüberliegenden Strassenseiten betritt man durch grosse Hauptportale zwei komplett voneinander getrennte Teile des Friedhofes. Durch das eine gelangt man zur ´Erwachsenenabteilung´, auf der anderen Seite zur Kindersektion. Das ist nicht etwa eine allgemein übliche mexikanische Tradition, sondern auch hier eher die Ausnahme. Es gibt zwar noch andere, aber insgesamt sind es nur sieben solcher Friedhöfe im ganzen Land.


Ein eigenartiges Gefühl begleitet mich, als wir uns zuerst dem Kinderfriedhof zuwenden. Was den Tod für mich auszeichnet, ist das Absolute an ihm, zumindest was die Lebenden betrifft. Was bis zu diesem Tag getan oder unterlassen, ausgesprochen oder verschwiegen wurde, ist nicht mehr zu revidieren. Aber auch, ob jemand reich oder arm war, mürrisch oder humorvoll, ist nun egal. Man ist sich gleich im Tod. Dieser alles nivellierende Charakter bezieht sich natürlicherweise ebenso auf Jung wie auf Alt. Deshalb wirkt es zunächst befremdlich, dass hier diese Nivellierung durch die Trennung geleugnet wird.
Selbstverständlich ist auch dies nur für die noch Lebenden von Bedeutung, sagt man sich, schon nicht mehr ganz so überzeugt davon, wie noch kurz zuvor.


Die kleinen Gräber sind sämtlich vollgestellt und behängt mit allen nur denkbaren Spielsachen. Ich glaube meinen Augen nicht zu trauen. Wir laufen nun schon eine ganze Weile die breite Hauptchaussee entlang und die Menge der Gräber nimmt immer noch weiter zu. Hunderte sind es, die durch ihre Vielfalt aber sogar den Eindruck von Tausenden erwecken. Etwa auf der Hälfte des Weges wird es noch bunter um uns herum. Man bekommt den Eindruck, auf einer Kirmes zu sein. Weitaus mehr Spielsachen befinden sich jetzt auf den Grabstätten. Auch sind sie neuer und noch nicht von der Witterung ausgebleicht, ein Zeichen dafür, dass hier die erst kürzlich verstorbenen Kinder bestattet werden. Diese frischen Gräber nehmen zu beiden Seiten der Chaussee den zentralen Platz auf dem Friedhof ein. Erst im hinteren Teil stossen wir dann wieder auf ältere Gräber.
Mittlerweile laufen wir kreuz und quer durch die Grabreihen, die Mehrzahl der Todesdaten
zeigt, dass die meisten Kinder nicht älter als ein Jahr waren.

Pepe muss plötzlich bemerkt haben, wie stark dieser Anblick auf mich wirkt. Bisher haben wir kaum ein Wort gewechselt. Bei einem überaus reichlich geschmückten Grab bleiben wir stehen. Was ich davon halte, fragt er mich unversehens. An darüber gespannten Leinen hängt alles voll mit bunten Luftballons. „Das erinnert eher an einen Kindergeburtstag“, meine ich und genau das ist es auch. Auf dem Grabstein lesen wir das noch nicht lange zurückliegende Geburtsdatum des Kindes.
Ich erkenne etwas wie Widerwillen in Pepe’s Gesichtszügen und dann fängt er plötzlich an zu erzählen; unverständlich zunächst und nicht so einfach nachvollziehbar für mich, auf was er eigentlich hinaus will.
Ob mir die vielen kaputten Gräber aufgefallen seien. Der chaotische, ungepflegte Allgemeinzustand des Friedhofs? Andererseits so etwas wie hier: keine Frage, „ein Riesenspektakel wird die Familie zum Geburtstag des Kleinen veranstaltet haben. Wer weiss, unter welchen Umständen das Kind seine Geburtstage zu Lebzeiten verbracht hat. Kein Geld für Geschenke, keine Zeit. Sicher kein so bombastisches Fest, wie vorgestern an diesem Platz…..“
Eine lange aufgestaute Wut scheint mit einem Male aus meinem Freund hervorzubrechen. Trotzdem meine ich, dass seine Hasstirade ungerechtfertigt ist. Was wissen wir schon davon, wie jene Geburtstage wirklich ausgesehen haben. „Soweit ich das beurteilen kann, werden Kindergeburtstage hier in der Regel doch immer recht grossartig gefeiert…..“

Aber der Einzelfall ist für Pepe natürlich belanglos. Es geht ihm um etwas anderes. Der Tod eines Onkels beispielsweise. Schon sterbenskrank wünschte er sich von der Frau sein Leibgericht. Eine Woche bat er vergeblich darum, dann war es zu spät. Seither kocht die Tante meines Freundes ihrem verstorbenen Mann wöchentlich jene Speise und verbringt ihre freie Zeit, wann immer es möglich ist, in der Kirche oder auf dem Friedhof. Jahrelang hatten sich die zwei nichts mehr zu sagen und auch die Leibspeise hatte der Onkel, zuhause zumindest, schon lange nicht mehr gehabt. Seit drei Jahren waren nun der Witwe einzigste Lebenskoordinaten: Küche, Kirche und Katakombe!

Dann die Geschichte eines noch nicht einmal zwanzigjährigen Freundes, für den dessen Familie bei den Verwandten keine 3000.- Pesos für die nötige Blinddarmoperation locker machen konnte und der dann starb, bevor der Vater selbst das Geld zusammengebracht hatte. Einer der Onkels, die man vorher vergeblich angepumpt hatte, spendierte einen Holzsarg für 5000.- Pesos!
Noch mehr Geschichten dieser Art erzählte Pepe mir an diesem Tag.

Natürlich haben sie alle mit Schuld zu tun, mit dem vergeblichen Ansinnen, Versäumtes wiedergutzumachen. Der grotesk dazu betriebene Aufwand, das Schuldgefühl loszuwerden, macht es schliesslich pathetisch. Das dies alles mit Religion und Glauben zusammenhängt, dem christlichen Glauben, weiss auch Pepe als Kirchenmitglied nur zu gut.

Als wir später auf die andere Seite zu den ´Erwachsenen´ hinüberwechseln, muss ich ihm Recht geben. Hier sieht es wirklich teilweise verheerend aus. Zusammengebrochene, möglicherweise gewaltsam aufgebrochene Gräber, viele grosse Haufen aus verwelktem Grabschmuck, die niemand zu entsorgen scheint und unter denen wir sogar einige Knochenreste finden. Der leicht süssliche Geruch lässt keinen Zweifel darüber aufkommen, wo wir uns befinden. Ratten huschen vor uns schnell unter umgefallene Grabsteine.
Rum- und Bierflaschen liegen überall verstreut herum, übrigens auch zwischen den Kindergräbern, wo es mir noch stärker aufgefallen war.
Wir setzen uns für eine Zigarette auf die Betonreste eines eingefallenen Grabes. Der Rauch vertreibt zumindest einige der Fliegen, die wir erst bemerken, als sie während des Sitzens über uns herfallen. Vor uns beobachten wir einen Vogel, der in einem der Abfallhaufen herumpickt und nach Pepe’s Meinung viel zu fett für die Spezies ist.

Das ist die andere Seite der Medaille, von der er mir nun erzählen will. Unser Sitzplatz zum Beispiel. Hier liegt jemand begraben. Gut vorstellbar, das es einer jener anonymen Toten ist. Den Grabresten nach zu urteilen auf jeden Fall jemand, den niemand vermisst. Er weiss, dass es widersprüchlich ist, was er nun sagt, denn gerade noch hatte er über jene gelästert, die erst etwas tun, wenn es zu spät ist. Hier handelt es sich aber möglicherweise um eine Familie, die nach dem Tod und dem Begräbnis mit ihrem Toten im Reinen war und keinen Anlass oder keine Möglichkeit mehr hat, die Grabstätte weiterhin aufzusuchen. Aber wieder war für Pepe der Einzelfall unerheblich. Die Schuld für eine solche Verwahrlosung läge auch oft beim Toten selbst, der zu Lebzeiten einfach nicht in der Lage gewesen war, etwas zu schaffen, was ihn darüber hinaus ehrwürdig machte, bzw. andere Menschen um sich zu sammeln, die ihn weiterhin in ehrbarer Erinnerung behalten würden. Ein nutzloses und weggeworfenes Leben.


Das schien mir alles noch sehr undurchsichtig. Ich beginne, ihm von einem neuen mexikanischen Film mit dem seltsamen Titel ‚JAPAN’ zu erzählen, indem ein Mann mittleren Alters, allem Anschein nach ein Maler, die Grossstadt verlässt, um sich in einem einsamen und kargen Gebirge das Leben zu nehmen. Gewiss kein Mann, der es sich nur einfach macht. Auch niemand, der vor dem Leben flüchtet. Im Gegenteil bereit, sich ihm Angesicht zu Angesicht zu stellen -dem Leben wohlgemerkt, gerade wegen seiner Bereitschaft, es sich zu nehmen. Jemand, der in einem winzigen Rucksack, nur für das Nötigste in seinen letzten Tagen, trotzdem Platz genug für einen voluminösen Bildband über moderne Kunst hat, und der zu diesen notwendigsten Dingen ausserdem einen Walkman zählt, um in grösster mexikanischer und endgültigster persönlichster Abgeschiedenheit Johann Sebastian Bach zu hören. Das ist kaum jemand, meine ich, dem etwas unbewusst zustösst. Auch ist kaum vorstellbar, dass er immer oder schon lange allein war. Eine denkbare innere Einsamkeit bleibt davon unbetroffen. Damit wäre dieser Mensch kein Einzelfall, sondern eher die Regel. Demgegenüber ist sehr gut vorstellbar, dass es Menschen gibt, die ihn nach seinem Verschwinden vermissen werden. Von seinem Tod wissen sie vielleicht nichts, auf jeden Fall erspart er ihnen, vielleicht auch sich selbst, jede in dieser Hinsicht mögliche Heuchelei. Was auch immer der Grund für seine radikale Entscheidung sein mag spürt man als Zuschauer unweigerlich, dass sie etwas mit einem sehr grossen Respekt vor dem Leben zu tun hat, selbst wenn ein gewisser Ekel davor eine zusätzliche Rolle spielen mag.

„Eben darum geht es“, meint Pepe. Es sei doch gerade das, was ihn so fürchterlich auf die Palme bringe. „Das Kind geht zum Brunnen, bis es fällt.“ Warum besinnen sich die Menschen immer erst, wenn es schon zu spät ist? Oder besinnen sie sich überhaupt? Es ist doch der Tod, der glorifiziert wird, der aber gleichzeitig, wie einem hier auf dem Friedhof San Isidro anschaulich bestätigt wird, keinerlei Transzendenz hat.
Bei den Tarasken-Indianern beispielsweise, wo Pepe Kinder -und Jugendjahre bei einer Adoptivfamilie verbracht hat, sei das grundlegend anders. Bevor sein Ziehvater starb, den er davor mehrere Jahre nicht gesehen hatte, bestellte dieser ihn an sein Totenbett für den sogenannten ‚ajuste de cuentas’, die Begleichung offenstehender Rechnungen. Ebenso tat er es mit seinem leiblichen Sohn, von dem er anschliessend verlangte, Musiker zu bringen, zu deren Spiel er ihm die ganze Nacht über vorsingen sollte. Das war die Übereinkunft, die sie bei ihrem Gespräch getroffen hatten. Im Morgengrauen starb der Vater schliesslich.
Den Dingen gerade ins Gesicht schauen und sie alle rechtzeitig in Ordnung bringen. Niemanden etwas ewig nachtragen, keinen Grund für Schuldgefühle haben und auch keinen Anlass dazu geben, kurz: „das Leben vor dem Tod leben!“

Als Pepe etwas früher gehen muss und ich mich noch einmal alleine auf den Teil des Friedhofs begebe, der für die Erwachsenen reserviert ist, überlege ich, das seine anfänglich so konfus erscheinende und widersprüchliche Logik sich mir jetzt durchaus zusammenreimte.

Auf meinem Weg komme ich nicht weit. Es ist bereits weit über Mittag und das jetzt drückende Klima hat den Effekt, dass der süsse Kadavergeruch inzwischen allgegenwärtig und unerträglich geworden ist. Ich muss würgen und drehe schnell um, erst an dem Blumenstand vor dem Haupttor atme ich wieder tief durch.


Seltsam, dass es auf dem Kinderfriedhof überhaupt nicht riecht…..

Hier hat man den massenhaften Tod auf jeden Fall nicht so ganz im Griff. Und wo man den Tod nicht im Griff hat, kann man vom Leben auch nicht viel mehr erwarten.

Ist es nicht dasselbe, was hier im Kleinen und im Irak momentan in einem unbeschreiblichen Ausmass geschieht? Alle Kräfte und Gelder werden mobilisiert, um eine möglichst gründliche Zerstörung herbeizuführen, nur um danach noch mehr Kräfte und Gelder zu mobilisieren für die Wiederherstellung der angerichtete Schäden. Allerdings ist es dazu dann schon zu spät.