Nave Industrial abandonada


3. Verlassener Industriepark, 07. 04.
(alle Texte in gekürzter Fassung, copyright by Holger Roick)

Heute beginnt alles mit einem Traum. Ein Traum, in dem ich selber sterbe, und zwar gleich mehrere Male, obwohl manche sagen, dass dies nicht möglich sei. Man kann den eigenen Tod nicht träumen, behaupten sie.
Nun, mir ist dies heute nicht zum ersten Mal passiert. Allerdings war mein gleich mehrfacher Tod und der Umstand, nach jedem weiteren Sterben in der Haut eines anderen zu stecken etwas, was den heutigen Traum einzigartig gegenüber den früheren machte.
Den Tag zuvor hatte ich einen Kommentar in der Zeitung darüber gelesen, wie dramatisch die neuen Erfahrungen für die amerikanischen Soldaten im Irak sein würden, die kurz davor standen, Bagdad einzunehmen. Seit 150 Jahren wussten sie nicht mehr, was es bedeutete, „mit dem Bajonett zu kämpfen“, sprich: Mann gegen Mann!
Darum ging es in meinem Traum. Wie in einem Videospiel war ich ein ‚fighter’, unwichtig dabei, ob ‚der Gute’ oder ‚der Böse’. In den Hochhausschluchten einer anonymen Stadt versuchte ich, dem Gegner zu entkommen, den ich gleichzeitig aber auch jagte. Längst war die Angst, dabei hinterrücks umgebracht zu werden, unendlich viel grösser als die parallel dazu sich gleichermassen steigernde Mordlust. So gross war die Angst, dass es besser gewesen wäre, sich eine Kugel in den Kopf zu jagen und es damit endlich hinter sich zu haben, als weiter in einer solchen Panik und Verzweifelung wie von Sinnen vorwärts zu stürzen. „Weiter, weiter“ tobte es in mir, ohne zu wissen, wohin und warum! Hinter jeder weiteren Häuserecke war der Feind und damit der Tod zu vermuten. Dem Feind konnte es nicht anders gehen, also blieb nichts übrig, als hervorzupreschen und die nächste Maschinengewehrsalve blindlings loszufeuern. Wie im Videospiel der Daumen unablässig den Auslöser drückt war auch hier die einzigst denkbare Möglichkeit nur, lieber zu viel als zuwenig Munition zu verschiessen. Die ging glücklicherweise auch nicht zuende, es war schliesslich ein Traum und noch dazu ein Videospiel! Auch bei einer Invasion fehlt es nie an Munition.
Nach meinem ‚ersten Tod’ bemerkte ich, dass ich mich in einem halbwachen-halbschlafenden Zustand befand. Es gab für mich an diesem Punkt plötzlich die Möglichkeit, entweder ganz aufzuwachen oder den Traum weiterzuträumen. Ich weiss nicht warum, aber ich entschied mich für weiterträumen. Dadurch habe ich danach noch einige weitere Male meinen eigenen Tod erleben müssen. Allerdings waren nicht die in der Folge 'erlebten' weiteren Tode das eigentlich schreckliche Erlebnis des Traums, sondern die real erlebte Angst darin. Den Wahnwitz der Situation erkannt zu haben, aus der es jetzt keinen Ausweg mehr gab. Das nicht mehr grauenhafter vorstellbare Alleinsein jedes einzelnen Kämpfers, nicht nur mein eigenes, am eigenen Leib zu spüren, das war das wirklich Entsetzliche an dem Traum. Aber es war kein typischer Albtraum, bei dem man an einem bestimmten Punkt schweissgebadet aufwacht, sondern eine beinahe bewusst erlebte Unschlüssigkeit, entweder die lediglich ‚virtuell erlebte Realität’ wegen einer morbiden Neugier noch ein wenig länger auszudehnen oder dem keineswegs virtuellen Grauen endlich aktiv (durch Aufwachen!) ein Ende zu bereiten. Soviel zu meinem Traum.

Der Stadtkrieg in Bagdad hat begonnen. Der Stadtkrieg setzt sich nachts in meinem Kopf fort. Und auch am Tag. Der Krieg in der Stadt, so sieht er aus, wenn er noch ohne Soldaten geführt wird; so wie in dieser Fabrikruine, in der ich mich heute für eine Weile verstecke -zum Schreiben!

Von hier aus kann ich endlich einmal die vielen Graffitis ganz aus der Nähe und mit Zeit betrachten, die ich vorher schon so oft im Vorbeifahren bewundert hatte. Alle noch einigermassen intakten Gebäude und restlichen Mauern der ehemaligen Industrieanlage sind gespickt voll davon. So viele ungenutzte Mauern, ein Paradies für Sprüher. Besonders, weil das Gelände von der etwas oberhalb verlaufenden, stark befahrenen Strasse, bestens einzusehen ist. So wirkt es wie das übergrosse Schaufenster einer Galerie für Sprayer-Kunst. Natürlich ein Dorn im Auge des braven Bürgers. Deren Abscheu gegen den ‚Vandalismus’ der urbanen Künstler geht soweit, dass Belohnungen für das Ergreifen eines in flagranti mit einer Sprühdose Bewaffneten ausgesetzt werden. Nachbarn haben sich schon zu Vereinigungen gegen die Sprüher zusammengeschlossen.


Sicher teilen nicht viele meine Meinung, dass Graffitis unsere Metropolen im Grunde verschönern. Das beziehe ich auch nicht nur auf die kunstfertigsten der Beispiele, worin mir möglicherweise noch eine bestimmte Anzahl von Leuten zustimmen würde, sondern auf das Phänomen an sich, ohne spezielle Beachtung der Talentiertesten unter ihnen. Was mich fasziniert, ist das Zusammenspiel von einem immer alle Probleme gleichzeitig ansprechenden Protest und die beharrliche Inanspruchnahme eines Raumes dafür, der persönlichen Ausdruck ermöglicht, wo es sonst keine andere Gelegenheit dazu gibt. Auch wenn Graffiti ursprünglich Ausdruck des Protests jugendlicher Slumbewohner war, so ist dieser Aspekt dem einzelnen Sprayer heute oftmals gar nicht mehr bewusst. Dennoch ist er der Bewegung inhärent. Er liegt in der Eroberung der Räume begründet, was an Krieg erinnert. Es herrscht Krieg in allen grossen Städten der Welt, aber die Kämpfer sind unsichtbar. Sie schreiten nachts voran, wenn der Gegner schläft und hinterlassen ihre Spur, die, wenn sie entziffert würde, sagt: „Keine Zukunft? Dann bauen wir uns selber eine und sie wird euch nicht gefallen!“ Allein die Klarheit dieser einfachen Mitteilung, die nicht oder doch nur am Rande durch Inhalt, sondern durch Farbe, Form und flächendeckender Präsenz ausgedrückt wird, bereichert und verschönert mir die Stadt. Denn es ist mehr geholfen, wenn die dringendsten Probleme offen zum Ausdruck kommen, als wenn sie unter einem fett geschminkten Antlitz verborgen bleiben. Die grossen Städte sind Zeitbomben, die auch ohne organisierte Kriminalität oder ökologischem SuperGAU explodieren können. Ein zu grosser Riss zieht sich durch ihre Versprechungen und ihre wahren Möglichkeiten. Nicht ohne Grund verschanzen sich die (vorläufigen!) Gewinner immer öfters hinter noch höheren Mauern, in gepanzerten Wagen und mit persönlichem Polizeischutz.



Man sollte das, was im Grunde erst eine Kriegsankündigung ist, versuchen zu verstehen, um den drohenden Gewaltausbruch abzuwenden. Indes drängt man Sprayer in die Kriminalität. Anstatt ihnen das brachliegende Areal zur Verfügung zu stellen, was ein Zeichen gewesen wäre, setzt sich die Illegalität hier zwangsweise nachts fort. Hohe Stacheldrahtzäune sollen Unbefugte von dem Gelände fernhalten. Grund genug für Sprayer, dies als Einladung zu verstehen.
Schnell finde ich selbst zwei kleine Einstiegslöcher. Ich warte einen günstigen Moment ab, an dem gerade kein Passant vorbeikommt, um über die Mauer und das Loch im Zaun zu klettern. In wenigen Sekunden habe ich mich über die Hindernisse gehievt und tauche auf der anderen Seite eine zeitlang unter. So bin ich hier nun auch ein verbotener Eindringling. Ich mache mich auf den Weg über das unübersichtliche Gelände, durch ehemalige Hallen, halb zusammengestürzte Werkstätten und um inzwischen sinnlos isoliert dastehende, d.h. surreale Mauern herum. Ein riesiges Labyrinth, ganz das chaotische Szenario vom Krieg in der Stadt aus meinem Traum. Die Angst, entdeckt zu werden ist zwar nicht vergleichbar mit der Todesangst, die ich heute nacht gespürt hatte, erinnert mich aber trotzdem bei jedem Schritt daran, ein ‚Invasor’ zu sein. So schleiche ich mich auch eher mit einem mulmigen Schuldgefühl durch die Anlage.
Was natürlich so gar nicht in das noch immer sehr gegenwärtige Traumbild passen mag, sind die jeden Zentimeter ausfüllenden Graffitis auf den Wänden ringsum. In meinem Traum waren die Wände seltsam kahl und weil alles darin irgendwie gleich aussah, verstärkte sich das Gefühl, vollkommen orientierungslos zu sein. Die Nacktheit der Traumwände unterstrich die absolute Verlorenheit aber erinnerte durch den so entstandenen artifiziellen Charakter seinerseits auch daran, dass alles ja ´nur´ ein Videospiel war.


Im Gegensatz dazu ist das hier die absolute Realität.

Man kann Graffitis mögen oder hässlich finden, aber wo sie sich, wie hier, so häufen, dass die Gebäude (= ’Zivilisation’) unter ihnen vollkommen zu verschwinden drohen, passiert etwas Eigenartiges. Man stellt sich unweigerlich eine geheime, nächtliche Aktivität vor, die rituelle Versammlung eines mysteriösen Stammes, der sich zu einer verbotenen Zeremonie trifft. Tribalismus in einer Stadt, die Apokalypse und Avantgarde zugleich ist. Ein schöpferischer Akt, nachdem nichts mehr so bleibt, wie es einmal war. Das Ritual und die Spuren, die es hinterlässt, sind ein und dasselbe.

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