Parres



1.Parres, 26. 03.
(alle Texte in gekürzter Fassung, copyright by Holger Roick)


Vor sechs Wochen habe ich zum ersten Mal die Möglichkeit bedacht. Heute ist daraus nun Wirklichkeit geworden.
Früh morgens mache ich mich auf den Weg zu meinem ersten ‚Einsatzort’. Nach jetzt knapp einwöchigen Attacken der USA gegen den Irak, sehr weit entfernt von hier und doch so nah, habe ich das Gefühl, selbst ein Kriegsberichterstatter zu sein. Gegen acht Uhr in der Frühe erreiche ich ein noch weitgehend schlafendes Parres. Vor mir, schon seit etlichen Kilometern, fahren zwei schwere Armeelastwagen, die Pritsche vollbesetzt mit scherzenden, bewaffneten Soldaten. „Fahrschule“ steht hinten auf grossen gelben Schildern geschrieben. Trotzdem verstärken sie weiter meinen Eindruck, ein Krisengebiet zu betreten.

Ich bin jetzt ein wenig aufgeregt. Ein kalter Wind bläst hier oben, wie fast immer. Trotz strahlendem Sonnenschein und dem würzigen Aroma von offenen Feuern, wie es hier typisch auf dem Lande ist und wie ich es so gerne mag, erfüllt sich eine insgeheim von mir gehegte Hoffnung nicht: wissend, dass mein grässlicher Eindruck von Parres auf vorherigen Durchfahrten immer nur oberflächlich gewesen war, erhoffe ich mir heute, mit der ernsten Absicht den Ort nun wirklich einmal gründlich zu inspizieren, ihn vielleicht doch etwas einladender zu empfinden. Leider warte ich vergebens auf so eine radikale Veränderung. Langsam fahre ich die Hauptstrasse entlang, ohne auf die mir sonst bekannte Hässlichkeit des Kaffs zu achten, sondern dieses Mal nur auf die wenigen Menschen, die so früh zu sehen sind. Parres wird, wenn man in die Gesichter schaut, in Wirklichkeit noch viel schrecklicher, als ich angenommen hatte. Keine Neugierde ist in den düsteren Mienen zu entdecken, die mich anstarren, nicht zu denken an einen Gruss. Aus finsteren Augen mustern mich misstrauische Blicke von Menschen in dreckigen und zerlumpten Kleidern. Ich erinnere mich daran, wie mir sonst immer davor gegraut hatte, hier einmal eine Autopanne zu haben. Nie wollte ich hier gezwungenermassen feststecken müssen, und nun habe ich mich sogar freiwillig hierherbegeben, um dieses Nest zu erkunden. Für den Moment vergeht mir jede Lust dazu. Am liebsten würde ich gleich wieder umdrehen. Ich fahre bis zum Ortsausgang und überlege, was ich tun kann. Von hier aus führt die letzte Strasse am südlichen Ortsrand den Hügel hinauf, auf dem der grösste Teil von Parres gebaut ist. Am Ende dieser Strasse steht auf dem höchsten Punkt und von weitem gut sichtbar, ein sehr neues, hohes und so gar nicht hierher passendes Gebäude. Dahin zieht es mich nun erstmal, zum einen, weil dieses Haus für mich im Moment so etwas wie ‚sicherheitsbietende Zivilisation’ in dieser ‚Wildnis’ bedeutet, zum anderen, weil es oben auf dem Berg steht, von wo aus ich einen besseren Überblick erhalten werde, auf Parres und auf meine fatale Lage.
Die Strasse endet hier und ich muss wenden. Hätte man an jeder Ecke der Stadt einen Begrenzungspfeiler in den Boden gerammt, wäre dieses Haus der süd-östliche davon, dahinter kommt dann nur noch Wald. Tatsächlich habe ich einen guten Ausblick von hier oben auf die eigentlich recht schöne Lage des Ortes, umgeben von dichtbewaldeten Hügeln. Plötzlich bedeutet mir der mit grünen Glasfronten versehene, prätentiöse Bau hinter mir gar nichts mehr und ich wünschte mir, er wäre fort.

Alles von Menschen gemachte erscheint mir mit einem Mal gleichsam bedrohlich, sei es ein ultramodernes Hochhaus im rauschenden Kiefernwald oder die unter Kabelwäldern chaotisch verstreuten Zementhütten.
Mich zieht es jetzt nur noch in den Wald, der mir hier als einzigster nicht wie ein Fremdkörper erscheint. Warum nicht als erstes direkt dorthin, zwischen die Bäume? Schliesslich gehört er doch auch zu Parres, oder etwa nicht? Ohne zu zögern flüchte ich mich hinein. Hier fühle ich mich gleich wieder ganz wohl. Breite, sandige Wege führen verschlungen noch weiter bergan. Keine Menschenseele ist hier weit und breit zu sehen, und seltsamerweise auch kein Zivilisationsmüll, obwohl ich die Menschensiedlung doch erst wenige Meter hinter mir gelassen habe. Nach einer Weile drehe ich trotzdem wieder um; zu schön ist es hier und ich bin aus einem anderen Grund hergekommen. Auf dem Rückweg finde ich einen kleinen, verdreckten Stoffwimpel. Innerlich so stolz wie ein Kind, das seinen grössten Schatz mit sich trägt, stecke ich ihn ein. Ich bin kein Kind mehr, mit diesem Akt bin ich zu einem postmodernen Anthropologen geworden. Und damit hat meine Arbeit begonnen! Es ist eine ungewohnte Arbeit, von der ich keine Ahnung hatte, wie sie anzufangen wäre. Nun weiss ich es. Mit neuem Mut begebe ich mich auf den Erkundungsgang.



Bewegt man sich von der Hauptstrasse fort, bemerkt man sogleich, dass man auf dem Lande ist. Fast keine Strasse ist hier geteert. Schwere Felsbrocken auf steilen und lehmigen Wegen machen es den Wagen, die Wasser oder Gas bringen, oftmals schwer, an die Häuser heranzukommen. Da erweist sich der Klappergaul, der unter dem Gewicht des Brennholzes, das er trägt schier zusammenzubrechen droht, als viel geeigneter.
Immer wieder schiessen unvermutet kleine Schafherden aus den Gassen hervor. Die frisch geschorenen Schafe sind alle mit einem grossen, dreckig-rotem Farbfleck auf dem Kopf gekennzeichnet und damit genauso hässlich, wie der ganze Ort, in den sie sogesehen äusserlich betrachtet wunderbar hineinpassen.
Ein Halbrund von aneinandergereihten kleinen Geschäften hat schon bessere Zeiten erlebt. Keines davon scheint noch in Betrieb zu sein. Die eisernen Rolltore sind entweder zerstört oder fehlen ganz. Wo man hineinschauen kann, sieht man hoch aufgestapelte Strohballen.
Eines der schönsten Häuser im ganzen Ort, weil es nicht unverputzt wie die anderern ist, sondern erst vor kurzem weiss gestrichen wurde und auch sonst einen sehr gepflegten Eindruck macht, ist ebenfalls mit Strohballen vollgestopft, wie man durch die groben und unpassend luxuriös getönten Fenster sehr gut erkennen kann.
Ein Hinweisschild der ‚Anonymen Neurotiker’ fällt mir ins Auge. Natürlich gibt es überall Neurotiker, aber in Parres scheint mir dies noch natürlicher zu sein.
In welcher Richtung auch immer man versucht, an den Ortsrand zu gelangen, immer wieder stösst man dabei schnell an einen Maschendrahtzaun, der den gesamten Ort zu umschliessen scheint. Dieser Zaun ist der Ortsrand. Die Schafe mögen der Grund dafür sein, zum Wäsche trocknen eignet er sich allemal ebenso, wie man sehen kann, aber beklemmend wirkt es dennoch.
Trotzdem aber auch: je länger ich durch den Ort streife, je höher die Sonne dort steht und die Plätze wärmt, so dass jetzt auch mehr Menschen hier anzutreffen sind, desto sicherer fühle ich mich. Und mit der gewichenen Angst beginne ich auch, mich etwas wohler zu fühlen, die Leute zu grüssen, die den Gruss lächelnd erwidern und mit offenem Blick mir freundlich den Weg weisen.
Im Wald hatte ich angenommen, die Arbeit bereits begonnen zu haben, aber erst jetzt nahm ich die Aufgabe, die auf mich wartete, wirklich an. Mit einem mal zweifle ich nicht mehr, eine notwendige Aufgabe zu erfüllen. Ich tue das einzig Richtige und Wichtige, was in diesen Zeiten für mich zu tun ist!
Die Neugierde der Kinder, die mir verstohlen hinterherschauen, tut gut. Sie zeigt, dass ich mich auf dem Planeten Erde befinde. Und sie stachelt mich an, über die eigene Neugierde nachzudenken: nach drei, vier Stunden sollte ein Ort wie Parres erkundet, das wesentliche absorbiert sein. Noch länger zu bleiben wäre morbid. Ich beschliesse deshalb, die Expedition für heute zu beenden. Ich bin sicher, meinem eigenen Vorurteil aufgesessen zu sein. Einmal von dieser Last befreit, verwandelt Parres sich, obwohl es dabei weiterhin so hässlich wie eh’ un je bleibt, vom ´Nichts’ in einen gefahrlosen Ort wie tausend andere. Man muss ihn deshalb nicht gleich mögen, man kann hier sein oder auch woanders, es bleibt sich gleich, aber man muss sicher keine Angst haben, dass einem hier eine Autopanne widerfahren könnte.

Aber als ob noch etwas fehlen würde, zieht es mich zum Abschluss doch noch einmal in den Wald zurück. Ich fahre deshalb ein Stück aus Parres heraus, um einen kleinen Berg herum und auf einem Feldweg wieder zurück in Richtung Parres. Nichts Bestimmtes führt mich auf diesen Weg ausser dem Wunsch, einen für das Schreiben geeigneten Platz im Wald zu finden. Und so komme ich nach Cima. Nicht etwa ‚La Cima’ (‚Der Gipfel’), sondern schlicht Cima, nur Gipfel also. Auf etwa 2500-3000m Höhe musste hier einmal eine Bahnstation gewesen sein. Das überall wuchernde Steppengras hat die alte Eisenbahnstrecke, oder besser die Holzschwellen, die davon noch übrig sind, noch nicht restlos verschlungen. Vom Bahnhofsgebäude stehen nur noch die Mauern, die Dachkonstruktion ist komplett in sie hineingebrochen. Was einmal ein gemauerter Wasserturm gewesen sein mag, trägt in grossen schwarzen Lettern den Namen CIMA. Auf einem noch existierenden Abstellgleis steht, in knallgelber Pracht, ein sicher hundert Jahre alter, erstaunlich gut erhaltener Reisewaggon. In den Fenstern hängen bunte Vorhänge und auf der überdachten Einstiegsplattform wachsen Blumen in Töpfen. Erst jetzt sehe ich auch das Blockhaus neben der Bahnhofsruine, etwas versteckt unter den Bäumen stehen. Sehr rustikal, klein aber fein, das Dach mit Solarzellen bepflastert. Auf einem Hügel daneben steht ein kleines silbernes Windrad und ganz in der Nähe davon entdecke ich dann, gut getarnt zwischen Kiefern, noch zwei ähnliche Häuser mit kleinen Gemüsegärten davor. Gipfel, der höchste Punkt, dem Himmel am nächsten, ist zweifellos eine winzige Aussteigersiedlung. Die Aussteiger selbst sind allerdings im Moment nicht anzutreffen. Ein ‚himmlisches’ Versteck mit einem grossen Hauch von (Western-) Nostalgie. Ich stehe auf den morschen Gleisschwellern und betrachtete mir dies kleine Paradies. Wenn ich so meinen Kopf nur ein kleines Stück weiter nach rechts drehe, kann ich in der Ferne das hässliche Parres sehen. Cima gehört zur Gemeinde Parres. Wie war es möglich, dass ich aufgebrochen war, das Hässlichste zu suchen und dabei das Schönste gefunden hatte? Nur ein kleiner, unbeabsichtigter und dazu noch zielloser Schritt zur Seite war nötig gewesen, mir einen vollkommen neuen Blickwinkel zu eröffnen, der mir zeigte, wie nahe beides beieinander lag.
Man kann sich streiten darüber, ob es sich bei Cima wirklich um ein Paradies handelt. Auch frage ich mich, ob es mir inzwischen nicht besser in Parres gefallen würde. Nun, das wohl kaum! Oder doch? Schliesslich ist diese konstruierte Romantik nicht weniger prätentiös als das Hochhaus im Wald… Aber Cima heute noch entdeckt zu haben, nachdem meine ‚Recherche’ doch eigentlich schon als abgeschlossen galt, ist eine paradiesische Erfahrung gewesen. In einem Paradies zu leben, ist nicht möglich, es für einen Bruchteil der Ewigkeit zu erleben dagegen schon. Und dieses Erleben hatte nichts mit dem Ort zu tun, sondern mit seiner Entdeckung! Ich hatte bereits gemerkt, wie wichtig es dafür war, möglichst vorurteilslos zu sein. Aber viel wichtiger noch war wahrscheinlich die Erfahrung, dass man mit der Neugier erst nachlassen darf, bis man plötzlich von ganz alleine bemerkt: „Das ist es jetzt!“ Es macht kurz ‚Klick’, man meint es zu hören, und dann schliesst sich wieder ein Kreis wie von selbst.

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